Vesaas, Tarjei: Die Vögel (1957). Berlin 2020. 275 S

Ein wunderbares, einfühlsames Buch. Besonders aber für Therapeuten, die mit Menschen arbeiten, die eine andere Wahrnehmung haben, als „behindert“ gelten, aber doch Grenzgänger am Rande der sogenannten „Normalität“ sind. Selten sind in einem Buch deren Konflikte und Probleme so sensibel geschildert worden wie in diesem. Der Roman erzählt eine Geschichte aus der Sicht eines jungen, geistig zurückgebliebenen Mannes am Rande eines norwegischen Dorfes, Mattis lebt allein mit seiner Schwester Hege, die den kleinen Haushalt durch Strickarbeiten am Leben erhält. Die Dorfbewohner sind freundlich zu ihm, auch wenn seine Versuche, durch Arbeit ein wenig Geld dazu zu verdienen, immer wieder misslingen. Er lebt in seiner eigenen wundersamen Welt: Die Natur ist für ihn voller Symbole und Zeichen. Die Sprache der Vögel meint er zu verstehen, eine Schnepfe, zwei Bäume sind ihm Freunde, ein Blitz leuchtet für ganz persönlich. Er hat Träume und eine unstillbare Sehnsucht: die jungen Mädchen, denen er an einem See begegnet, ihnen und ihrem Boot nur zuschaut, möchte er wieder begegnen, ihnen nahe sein, spürt aber ein Tabu, das ihn mit Angst erfüllt. Er meidet, das was er sucht, es erscheint ihm zu gefährlich. Gefährlich wie manche zugleich faszinierende Wörter: Messer, Blitz und Denken. Wir erleben mit ihm seinen Alltag, heitere Szenen und auch komische Situationen, hören von für ihn unsagbar wichtigen Ereignissen und dramatisch wirkenden Veränderungen. Der Leser ahnt sein Ende, als in dieser kleinen Welt von Mattis und seiner Schwester ein Mann auftaucht, der die Zweisamkeit der Geschwister und damit die Lebensbasis von Mattis zerstört.

Karl Ove Knausgaard hat dieses Buch bezeichnet „als besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde“. In der Tat, ergreifend ist die Geschichte, beeindruckend ihre sprachliche Umsetzung: einfach und zugleich groß in ihrer Poesie und ihren Bildern.